Freitag, 18. Juli 2014

Kletterliteratur






Hard Stuff

  Bum ……… Bum ………Bum ………, das Herz klopft langsam aber kräftig. Ein Keil steckt im Riss an der Dachkante. Die gechalkten Fingerkuppen schieben sich ebenfalls in den schmalen Spalt. Der Fuß wird auf Gegendruck über den kleinen Vorsprung gestellt. Die Finger der linken Hand tasten nach einer flachen Dulle. Einmal Schwung holen, und noch einmal. „Uah!“ Und hochfeuern, den schmalen Spalt einen Meter weiter oben getroffen. Schnell wieder stabilisieren. 


Bum … Bum … Bum …, die Pulsfrequenz hat sich verdoppelt. Einige wacklige Meter in der Rissverschneidung hoch. Nie mehr als den ersten Zentimeter der Finger im Riss. Ein weiter Zug mit der rechten Hand auf einen schlechten Sloper, der Keil zwei Meter unter den Füßen. Rüberschieben in die Verschneidung. Nur die Reibung des Felsens hält die Kletterschuhe dort, wo sie sind.


Bum, Bum, Bum, der Puls ist bis in den Hals zu spüren. Ohne Griffe und ohne Tritte in der Verschneidung hochschieben, bis die rechte Hand ein abschüssiges Band ertastet. Der Keil entfernt sich inzwischen auf 4 Meter. Noch mal chalken, denn jetzt wird es richtig wackelig.


Bubum, Bubum, Bubum, fünf Meter über dem Keil. Jetzt irgendwie die Füße nachholen. Doch sie finden keinen Halt, sie suchen auf der Wand nach Halt, sie rutschen. „Aaaahhhhhh!“  Abflug. Einen Meter über dem Boden der harte Anprall an die Felskante. Rotieren … schlechter Techno ... schwarzer Bildschirm ...:  

Hard Grit


Kein Kletterer meiner Generation der diese Filmsequenz nicht kennt. Jean Min-Trin-Thieu der dem chipskauenden und biertrinkenden Zuschauer direkt im Vorspann des Kultfilms klarmacht, wie es auf der Insel zur Sache geht. Über sein aufgeplatztes Schienbein kann so ein Mordskerl nur müde lächeln. Aber ein klein wenig zittrig wirkt er schon … Seb Grieve lässt im Folgenden noch wissen, dass  er vor dem Durchstiegsversuch von "Pathian shot" „pretty bad, as usual“ geschlafen hat. Also, es scheint genügend Gründe zu geben, nicht nach England zum Klettern zu reisen.



In der Vorabrecherche zu unserer Männertour in den Peak schrieb ich um Infos bittend den BMC-Verlag an. Und schon am nächsten Tag trudelte in meinem virtuellen Briefkasten eine Mail aus England ein.

„Oh Gott! Weißt du, wer mir geschrieben hat?“

„Na, wer denn?“

„Der Grimer!“

„Wer?“

„Na Grimie …!“

„…?“

„Niall Grimes!“

„…?“


Ja, tatsächlich nahm sich Niall Grimes höchst persönlich meiner Fragen an. Mein Held der britischen Kletterliteratur, quasi der Peter Brunnert der Insel, Chronist des Peak Districts und natürlich der lebendige Leitfaden durch „Hard Grit“. Und nur wenige Tage drauf schon steckt in meinem ganz irdischen Briefkasten ein Päckchen mit zwei Büchern, ebenfalls britischerAbsendung:

"Stanage - The definitive Guide" und "Boulder Britain - The essential guide to British bouldering". Durchaus selstbewusst kommen schon die Titel der beiden Werke daher, welche unüberlesbar federführend durch Niall Grimes entstanden. 

"Stanage - The definitive Guide" beschreibt - Nomen est Omen - alle Routen wie auch alle Boulderprobleme von Stanage Edge. Übliche Lobhudeleien wie etwa: "Gutes Kartenmaterial, 1.300 Routen und 400 Boulder auf 200 Farbfoto-Topos, 140 stimmungsvolle Kletterfotografien und 5 Boulderparcours in bleauesker Tradition" erspare ich mir an dieser Stelle und komme direkt zur eigentlichen Stärke dieses Buches, das nun schon Wochen vor Reisebeginn zu meiner Bibel geworden ist.

Kein Tag vergeht, an dem ich nicht in diesen 350 Seiten blättere, auf diese und jene kleine Geschichte zu dieser und jener Route stoße. Immer gespickt mit einer kleinen oder aber auch großen Portion britischen Humors lesen sich selbst die Beschreibungen der Routen bzw. Boulder wie kleine Satiren. Die Bedienungsanleitung für "Big Air" (E6 6b) beispielsweise liest sich folgendermaßen: Remove brain, leap across the chasm to the pocket, replace brain (crux) and solve the tricky rock-over for the Top." Der historische Klassiker "The vice" lädt mit folgendem Text zur Ersteigung ein: "A ferocious climb that will eat you up and spit you out for breakfast if you´re not up to it."



Der historische Abriss des Gebietes ist es ebenfalls lesenswert. Daneben existieren noch viele Zeitzeugentexte aus den verschiedenen Epochen des Gebietes, so zum Beispiel "Loving on the Edge", ein Text von Ed Drummond, "Conquering the unconquerables" oder "The Plantation - A Bouldering History" von Adam Long, einer der Erschließer eines der berühmtesten Bouldergebiete der Welt - nicht erst seit dem Film "One summer".

Ein weiterer sehr unterhaltsamer Gimmick sind die "My favorite fives", in denen unzählige bekannte und unbekanntere Locals ihre liebsten Routen nennen. Manch einer listet lediglich Routennamen, andere hingegen legen in epischer Breite die Gründe für die Auswahl dar und erzähler Erinnerungen und Anektoten. Seb Grieve z. B. schreibt über eine der ganz klassichen Kantenklettereien: "Archangle, E3 It is not just the same move all the way, it is just 76 similar layback handmovements and 83 similar foot smears ... By the way, I believe that you picked up a set of keys at the party on sat night? They were mine, Seb."


Lange Rede, kurzer Sinn: "Stanage - The definitive Guide" ist kein normaler Kletterführer, eher ein Stück Kletterliteratur, und jetzt schon, vor Reiseantritt, zerlesener als jedes einzelne Exemplar meiner Gesamtausgabe: "Thomas Mann - Gesammelte Werke in 13 Bänden".


"Boulder Britain- The essential guide to British bouldering", was gibt es zu diesem Kletterführer zu berichten? "Boulder Britain" ist ein nett aufbereiteter Boulderführer, mit schönen Kletterfotos und aufschlußreichen Topos. Aber lassen wir den Autor sprechen: "3.200 problems of all grades - 180 venues from the most popular to the most obscure - The most exciting fotos from the best photographers - ..."  

Auch wenn nicht alle Gebiete über eine lokale Bedeutung hinauszugehen scheinen, so ist dieser Auswahlführer doch sehr inspirierend und macht Lust auf einen reinen Bouldertrip über die Insel. Und auch hier nennt Niall Grimes die Dinge very british beim Namen. So umschreibt er Jerry Moffats "the place to be" (beschrieben in seiner Biografie "Rockgod") "Parisella's Cave folgendermaßen: "All hail the polished, slippery, dank, ugly, dusty, goat-shitted, wee-smelling Mecca of power-stanima". Das klingt nett und lädt zum verweilen ein. Ebenso wie die Beschreibung von "Pednvounder": "A beautiful south-facing nudist beach at the very bell-end of Cornwell ... The thought of doing fun granite problems as the summer sun warms your back and with a fresh salty breeze blowing gently around your balls. Magic!"

Auch wer nicht vor hat in Großbritanien zu bouldern wird bei der Lektüre dieses knapp 500 Seiten umfassenden Kletterführers unterhalten und zu dem ein oder anderen Schmunzler gezwungen!


Stanage - The definitive Guide
Herausgeber: BMC
Verlag: BMC (BMC- Shop)
 
Boulder Britain - The essential guide to British bouldering
Autor: Niall Grimes
Verlag: Ape Index Boulder Britain

Rockgod: Das Leben einer Kletterlegende 
Autor: Jerry Moffat - Niall Grimes




Samstag, 28. Dezember 2013

Achtung: Satire



But in their hearts …


Vor kurzer Zeit besuchte ich mit meiner Freundin Bekannte in Aachen. Da wir nun schon mal da waren, wollten wir uns einen Streifzug durch den historischen Stadtkern nicht entgehen lassen. Der Aachener Dom, wenn auch viel kleiner als unserer in Kölle, soll ja recht hübsch anzuschauen sein. Und gekrönt wurden da schon viele Kaiser. Den sollte man mal gesehen haben. Also zogen wir nach reichlicher Kaffee-und-Kuchen-Versorgung bei den Bekannten los ins Aachener Zentrum. Vorsichtshalber informierte ich mich bei den freundlichen Gastgebern noch, ob sie eventuell ein Bergsportgeschäft in der Gegend kennen. Läge direkt auf dem Weg, nur mal rechts in die Straßen gucken, dann sieht man schon „Spezialsport“.


Der Bergsportladen schlechthin
Gesagt, getan, haben wir in alle rechten Straßen auf unserem Weg geschaut und nach besagtem Geschäft Ausschau gehalten. Eigentlich bin ich kein Shopping-begeisterter Mensch. Ich muss auch nicht jegliche Hardwear rund um mein Hobby am besten in mehrfacher Ausführung und allen erdenklichen Farbtönen der Saison besitzen. Demzufolge ist normalerweise auch nicht der örtliche Bergsportartikelanbieter mein erster Anlaufpunkt beim Erkunden einer fremden Stadt. Aber derzeit stehe ich vor dem akuten Problem, dass ein renommierter Kletterpatschenhersteller ohne Vorwarnung und ohne ersichtlichen Grund einen Kletterschuh aus seinem Sortiment verbannt hat. Keinen x-beliebigen Schuh. Nein, natürlich ist es DER Schuh. Ein Kunstwerk aus Gummi und Kunstleder, das wie gemacht ist für meine individuelle Fußform und meinen mir eigenen Kletterstil. Als ich das erste Mal mit meinem Fuß hineinrutschte, wusste ich: Dieser Schuh und ich wir gehören zusammen. Dieser Schuh gab meinem Klettern erst einen Sinn. Aber genauso wusste ich, dass Klettern für mich nicht mehr möglich wäre, wenn dieser Schuh in einer hoffentlich fernen Zukunft nicht mehr hergestellt würde. Leider ist diese ferne Zukunft nur zwei Jahre später eingetreten. Die Gummierung meines letzten Paares dieser Wunderwaffe wird dünner und dünner. Deshalb befinde ich mich zurzeit auf einer verzweifelten, sinnsuchenden Reise durch Bergsportläden.


Und so betraten meine Freundin und ich den „Spezialsport“, den wir schon nach der 25. Seitenstraße, in die wir hineingeschaut hatten, entdeckten. Meine Hoffnung war, in einem Modell des gleichen Herstellers so etwas wie den Nachfolger meines Schuhs zu entdecken.

„Kann ich helfen?“, wurden wir, kaum im Laden, angesprochen. „Wo finde ich denn Kletterschuhe?“ „Da drüben, ich schicke dir jemanden der sich gut auskennt.“ „Danke, nicht nötig, ich weiß, wonach ich suche und wollte nur mal schauen.“ Dass auch jenseits der USA an einem gewissen Servicegedanken gearbeitet wird, finde ich löblich und für viele Branchen auch geeignet. Bei Bergsportausrüstung ist es jedoch häufig so, dass der potenzielle Käufer, wenn nicht gerade neu im Vertikalsport, ziemlich genau weiß, wonach er sucht. In diesem Fall wäre es meines Erachtens für Käufer und Verkäufer besser, wenn jeder seiner Wege ginge. Stattdessen wird man häufig von übermotivierten und übergeschulten „Teamern“ vom Hereinkommen bis zum Verlassen des noch so kleinen Lädchens begleitet. Die Folge der zu vielen wohlgemeinten Ratschläge ist, dass mein Trotz zum Vorschein kommt, was in ellenlangen Wissensbattles über Hardwear im Speziellen und Klettern im Allgemeinen mündet. Ein Beispiel: Ich frage in einem Kletterladen den Verkäufer, ob er mir den „5.10 Anasazi Velcro“ in 42 rausgeben kann. Seit vielen Jahren kletterte ich schon mit diesem Schuh. „Das ist doch viel zu eng! Spätestens, wenn du am 4. Stand stehst, fallen dir die Zehen ab. Ich hol dir eine 44.“ Da blieben mir die Worte weg. Aus purer Frackigkeit habe ich den Schuh dann in 41,5 gekauft. Zu Hause musste ich mir eingestehen, dass ich ohne ernsthafte medizinische Schäden nicht in diesen reinkomme würde. Beim Umtausch konnten wir uns auf 42,5 einigen.


Zurück zum Aachener Sportspezialisten. Ich schlich mich in die Kletterschuhecke und schaute mich um. Schnell überschaute ich das Sortiment, sah, dass keines der Würde-ich-gern-mal-probieren-Modelle dabei war. Also schickte ich mich an, schnell das Feld zu räumen. Doch unausweichlich und bedrohlich wie ein nahender Hurricane bewegte sich der eben noch von mir dankend abgelehnte Schuhverkäufer auf mich zu. Outdoor-Vertreter von Kopf bis Fuß. Trotz der geringen Steigungen im Aachener Voreifelland hochgebirgstaugliche Trekkingschuhe und giftgrüne Boulder-Hose, nur falls man an der einen Quadratmeter großen Testwand doch mal einen schweren Boulder ziehen muss. Das Mammut-Funktionsshirt kombiniert mit atmungsaktiver Fleece-Weste, ebenfalls Mammut, machten noch am meisten Sinn, da die Temperaturen in dem völlig überfüllten Laden wahrlich schweißtreibend waren. Die bessere Taktik wären jedoch wahrscheinlich eine Bekleidungslage weniger gewesen und der Verzicht auf eine Strickmütze.


Outdoorfach-Verkäufer: „Kann ich helfen?“ Ich: „Nein danke, ich wollte nur schauen, ob ihr den Blackwing hier habt.“ Outdoor-Fachverkäufer: „Hast du schon mal den Speedster probiert?“ Ich: „Ich wollte eigentlich nur nach einer Alternative für den Jet 7 suchen und schauen, wie die neuen 5.10-Modelle ausfallen.“ Outdoor-Fachverkäufer: „Was willst du denn damit machen?“ Ich: „Klettern.“ Outdoor-Fachverkäufer: „Bouldern? Steile Routen? Mehrseillängen?“ Ich: „Ja genau!“ Outdoor-Fachverkäufer in mir meine Naivität verzeihendem Tonfall: „In den höheren Graden brauchst du ’nen anderen Schuh für ’ne steile Route als für ’ne Reibungsplatte.“ Ich: „Ach?“ Outdoor-Fachverkäufer: „Also für Routen wie ‚Herkules‘ in der Fränkischen brauchst du schon ’nen ordentlichen Downturn. Oder bei ‚Carnage‘ in Bleau muss die Kantenstabilität passen. Also ganz ehrlich, ‚Symbiose‘ wäre ich nie ohne den Phyton geklettert. Und im Yosemite wäre ich mit meinen Boulder-Schluffen keinen Sechser hochkommen.“ Ich: „Beeindruckende Ticklist, aber ich suche wie gesagt etwas wie den Jet 7. Möglichst eine schön weiche Sohle und genügend Downturn. Damit war ich immer sehr zufrieden. Sowohl in Bleau wie auch auf Kalymnos und in Thailand. Und sogar in ‚Herkules‘ und in ‚Carnage‘ bin ich mit denen schon rumgeklettert.“ Outdoor-Fachverkäufer: „Was ist mit Mehrseillängen?“ Ich: „Dafür habe ich ’nen alten ausgelatschten Anasazi Velcro.“ Outdoor-Fachverkäufer: „Also, ich klettere ja nur den cleanen Kram und die Sachen sind echt hart! Da brauchste schon ’nen super Schuh! Da kann ich echt den Impact empfehlen. Musst du halt an den Standplätzen ausziehen.“ Ich: „Also 5.10 habt ihr gar nicht da? Dann danke schön.“ Outdoor-Fachverkäufer in für meinen Geschmack etwas zu bedeutungsschwangerem Ton: „Kommst Du zu den Moves?“ Ich: „Was???“ Outdoor-Fachverkäufer: „Zu den Moves, den Soul Moves? Das ist so ein echt chilliges Event. ’Ne Boulder-Session. Coole Leute, coole Boulder und echt smooth mit den Leuten zu moven!“ Ich: „Naja, ich schraube da so ein paar Boulder für die Soul Moves.“ Outdoor-Fachverkäufer: „Äh … ach so … ja schön. Tut mir leid, dass ich nicht weiterhelfen konnte. Tschüss!“


Begehrtes Leibchen: Das Eventshirt
Womit wir beim Thema wären: Boulder-Events.

Ehrlich gesagt habe ich bei nur wenigen tatsächlich mit gebouldert. Hierfür könnte ich diverse Argumente anführen, die mich als einen ideelleren, echteren Kletterer, als ein Verabscheuer des Plastikkletterns oder einfach als einen besseren Menschen dastehen lassen. Die Wahrheit ist, dass mir der Mumm fehlt, mich mit meinesgleichen zu messen. Mir einzugestehen, dass doch sooo viele Leute sooo viel besser bouldern, als ich es tue. Diesem ungewollten Leistungsdruck zum Trotz habe ich einmal mit einem Kumpel angefangen, bei der „Ehrenfelder Boulder-Nacht“ für jeden nicht geschafften Boulder ein Kölsch zu trinken. Dass es bei 35 zu schaffenden Problemen einen kausalen Zusammenhang zwischen proportional sinkender Erfolgsquote und steigender Bierrate gab, leuchtet ein. Folgerichtig haben wir im kommenden Jahr gar keine Kletterschuhe mehr angezogen, sondern direkt versucht, 35 Kölsch zu trinken. Obwohl dieses leckere obergärige Hopfengetränk im handlichen 0,2-l-Maß ausgeschenkt wird, war uns auch in dieser Disziplin kein sportlich einwandfreier Flash-Erfolg gegönnt. Die körperliche Verfassung am nächsten Morgen ließ zwar den Schluss zu, dass wir uns der angestrebten Marke genährt hatten. Doch eine Durchführung fehlerfrei und in einem Zug ließ sich nicht eindeutig belegen.


Eventvorbereitung: Schwerstarbeit!
Bei besagten Soul Moves jedoch gehöre ich seit vielen Jahren zu den Leuten, die am Vortag massenhaft Boulder schrauben, Boulder probieren, Boulder wieder umschrauben, um am Abend hoffentlich genügend Probleme für die Soulmover kreiert zu haben. 


Das Schöne am Event-Tag ist, dass – während Hunderte Sportler minutenlang anstehen müssen, um an den immer schmockiger werdenden Griffen vielleicht schon beim Lift-off rauszuschmieren und sich anschließend wieder hinten in die Schlange einzureihen, – ich meinen Muskelkater von einer netten Boulder-Session an jungfräulichen Bouldern auskurieren und das illustre Treiben beobachten darf. Und illuster ist das Treiben. 


Entspannte Boulderatmonphäre
Was in Hühnerställen als nicht artgerecht bezeichnet wird, tun sich die Sportler hier freiwillig an. Dicht an dicht stehen sie in der völlig überfüllten Kletterhalle, die chalk- und schweißgeschwängerte Luft erinnert an eine Raucherkneipe an Karneval zu sehr später Stunde und die dumpfen Bässe von Dub und Reggae wettstreiten mit „Come on, allez, gett schoa!“-Geschrei und den Urlauten der um noch mehr Aufmerksamkeit für ihr Tun werbenden Protagonisten. Und dies tun sich die passionierten Outdoor-Sportler oft auch dann an, wenn außerhalb der Kletterhalle feinstes Boulder-Wetter herrscht. Möchte man also an einem Samstag ein umliegendes Boulder-Gebiet ganz für sich haben, suche man sich einfach den Tag einer solchen Veranstaltung aus.

Zwei modische Stiltypen dominieren das Bild: Der moderne Boulderer trägt untenrum lange E9-Hosen – wahlweise in Giftgrün oder Müllabfuhrorange – dazu obenrum nichts (zum Aufwärmen zwischendurch schlüpft man gerne mal in das Teilnehmer-T-Shirt irgendeiner vergangenen Boulder-Veranstaltung) und ganz oben eine Strickmütze. Der vertikale Kurzprogrammliebhaber, der sich den „Schon lange dabei“-Touch geben möchte, trägt untenrum kurze Boulder-Hosen, obenrum Daunenjacke über blankem Oberkörper und natürlich: Strickmütze. Bei den Damen sieht es ähnlich aus, lediglich der bare Busen wird ungern präsentiert, also von Markentops bedeckt. Ich gehe davon aus, dass sich die Träger dieser Klamotte in zehn Jahren ebenso beim Anblick ihrer Kletterfotos grämen, wie den Klettermodesündern der 80er beim Betrachten ihrer unvorteilhaft in pinkfarbenes Lycra gehüllten und durch den Stretcheffekt besonders zur Geltung gebrachten Männlichkeit und natürlich den 90er-Verve-Hosen-mit-Teva-Sandalen-Sektierern heute so mancher Schamesschauer über den Rücken läuft. Und keiner kann sagen: Ich war jung und brauchte das Geld. Ganz im Gegenteil haben auch schon die Jüngsten offensichtlich zu viel Geld. Für den Preis eines solchen Outfits, und da ist wohlgemerkt kein T-Shirt dabei, kann man sich schon fast ein Crashpad leisten.


Photo by Thomas Hörster
Spannend auf einem solchen Event ist es, die Regelauslegung leider nicht nur einzelner Teilnehmer zu betrachten. Wenn jeder sein eigener Schiedsrichter ist, kommt es zu den wunderlichsten Entscheidungen – in der Regel zu den eigenen Gunsten. „Hey, es geht um die Session, nicht ums Gewinnen! Coole Leute, coole Boulder! Dabeisein, das ist es!“ Dieser Spirit spiegelt sich jedoch weder in dem Willen, seinen Nächsten zu spotten, auch wenn die Krux hoch ist, das Crashpad am falschen Ort liegt und noch drei Leute plaudernd unter dem inzwischen am ganzen Körper vibrierenden Vertikalartisten stehen, noch im fairen und ehrlichen Eintragen der erbrachten Kletterleistungen. 


Der Klassiker ist der vom Tritt gerutschte Fuß. Boden berührt, weitergeklettert, Flash eingetragen. Eine moralische Gangart härter ist der „Naja, hätte ich eigentlich geflasht“-Flash knapp gefolgt vom „Hätte ich flashen können“-Flash. Ebenso gerne wird der schwere Sitzstart zu einem Hockstart oder zu einem Beinahe-Stehstart. Und fast genauso beliebt ist der schwer zu haltende Topgriff, der – obwohl die zweite Hand fehlte oder gar nur mit einer Hand abgeklatscht wurde – noch als lupenreine Begehung gewertet wird.


Photo by Thomas Hörster
Als ich mich ausnahmsweise mal der Situation gestellt habe und mitgebouldert habe, wurde ich im eigenen Bekanntenkreis Zeuge folgender Begehung:

Zu klettern war ein Boulder mit vielen, aber relativ leichten Zügen. An einem Torbogen ging es auf der einen Seite hoch und auf der anderen wieder runter. Nun war bei diesem wenig aufregenden Ding die einzige Krux, die zweite Hand an den auf Kniehöhe liegenden, sehr runden Topgriff zu bekommen. Zuerst versuchte Johann sein Glück. Nach einigem zittrigen Hin-und-Her-Geeier auf den schmierigen Tritten gelang es ihm, die zweite Hand dazuzunehmen und den Griff regelkonform drei Sekunden lang zu halten und sich somit eine ehrliche Flash-Begehung zu sichern. Unter ähnlichen Umständen gelang mir als Zweiter ebenfalls die zwar knappe, aber regelkonforme und ehrliche Begehung. Als Dritter im Bunde versuchte nun Björn sein Glück. In souveräner Art und mit einer Extraprise publikumswirksamer Ästhetik glitt und hangelte er durch den Torbogen. Doch am runden Finalsloper war es vorbei mit der Katzenartigkeit. Verzweifelt wurde jeder Tritt mit links probiert mit rechts probiert, geheelhookt, getoehookt, es wurde blockiert und gestützt, doch nichts half, die Position zu stabilisieren und die linke Hand vom letzten guten Griff zu lösen und sicher drei ehrliche Sekunden an den miesen Sloper zu legen. Die immer praller werdenden Unterarme zwangen Björn zur finalen Verzweiflungstat. Er ließ den linken Griff los und schmiss im Rauskippen die Hand in Richtung Topgriff. Schwer zu sagen, ob der Fuß zuerst den Boden berührte oder die Hand den Sloper abklatschte – gewiss ist jedoch, dass sie dort nicht einmal eine Sekunde verweilte, ehe sich Björn auf der Matte wiederfand. Ungerührt dieser Tatsache rappelte sich Björn auf, klopfte sich das Chalk von den Klamotten, griff zu Stift und Papier, machte ein heimliches Kreuzchen und steckte beides schnell weg. „Björn!“, kam es wie aus einem Mund von Johann und mir, „Du hast dir doch keinen Flash eingetragen?!“ „Warum denn nicht, ich hab den doch geflasht!“ „Noch mal rein mit dir! Nichts hast du!“ Darauf holte Björn seinen Zettel raus, kritzelte darin herum und sagte: „Na gut, dann schreibe ich eben nur ein Top auf!“ Na, wenn das nicht fair klingt!


Leichter machen es sich da schon einige geübtere Pfuscher, die sich zu recht Chancen auf einen Sieg ausrechnen. Und diese will natürlich nicht leichtfertig durch beispielsweise einen wegrutschenden Fuß in einem leichteren Boulder aufs Spiel gesetzt werden. Also macht man lieber einen Bogen um alles, was nicht zumindest im mittleren Hardmover-Segment angesiedelt ist. Dies hat direkt mehrere Vorteile. Den einen eben, nicht bei einem leichteren, aber doch etwas wackeligen Bewegungsproblem rauszupurzeln. Des Weiteren ermöglicht diese Taktik ein besseres Zeitmanagement durch die fehlenden Wartezeiten an den viel frequentierten Allerweltsbouldern und zu guter Letzt lassen sich die doch auch bei Favoriten beschränken Kraftreserven besser auf die wahren Probleme konzentrieren. Das Ganze wäre auch eine legitime Herangehensweise, wenn nicht in arroganter Art und Weise alle ausgelassenen Boulder mit einem „Kann ich sowieso flashen“-Kreuzchen versehen würden.


Vor einigen Jahren hatten wir einen Spaßboulder kreiert. Man musste mit Anlauf auf einer leicht geneigten Platte zweimal antreten, um direkt an den Topgriff zu springen. Solche ungewohnten Timing-Angelegenheiten sind natürlich sehr unbeliebt, weil wahre „Flashkiller“. Und so schaute ich gerade bei diesem Boulder zu, als einer der Mitfavoriten sein Glück versuchte. Wie schon viele vor ihm musste auch er einige Male anlaufen und hüpfen, ehe der Absprung stimmte und er den Griff erreichte. Doch was musste ich bei der Auswertung auf seinem Zettel entdecken? Da war das Kreuzchen doch tatsächlich in die Spalte „Flash“ gerutscht.

Ebenfalls in die Kategorie dumm gefuscht gehört die sagenhafte Flash-Begehung einer Teilnehmerin des Boulders, der so schwer war, dass er ansonsten niemandem, nicht einmal den ganz starken Jungs eine erfolgreiche Besteigung gestattete. Und natürlich auch der ambitionierte Jungspund, der dem Zuschauer eines veröffentlichten Videozusammenschnitts das systematische Erarbeiten eines Boulders präsentiert, und zwar eines Boulders, den er auf seinem Zettelchen als erfolgreiche Begehung im ersten Versuch dokumentiert hat. Hat er diesen etwa nach seiner Flash-Begehung noch mal projektiert?



Photo by Thomas Hörster
Eines sollte man bei einer allzu großzügigen Regelauslegung beachten: Wenn man sich versehentlich aufs Treppchen schummelt, wird man von seinen abgeschüttelten Konkurrenten zukünftig sehr genau beim Bouldern beobachtet. Und dann bleiben einem nur zwei Möglichkeiten: Entweder erträgt man die Peinlichkeit, dass man nie mehr an die Leistungen dieses Überfliegertages anknüpfen kann oder man verlässt die Stadt.


Aber bei aller Frotzelei bleibt zu sagen, Soul Moves sind und bleiben Kult. Ob aktiv oder passiv ein "Mordsgaudi": Geile Musik, geile Moves und eine Menge Leute, die man seit "letztes Jahr Bleau, bei Regen im Decathlon" nicht mehr gesehen hat. 

Und für die Regelkonformität gilt folgendes aus einem englischen Bleau-Topo entnommene Zitat: "Some jump off after the crux, avoiding the easier, but high finishing moves, and claim an ascent. But in their hearts they know …"


Dank an Thomas Hörster Photographs für die tollen Bilder.

Freitag, 4. Oktober 2013

Diskussionsstoff...

...Nordeifel!

Dass über das Thema "Klettern in der Nordeifel" diskutiert wird bis die Köpfe rauchen, ist ja nichts neues. Doch nun hat ein Beitrag der Lokalzeit NRW neuen (und alten) Zündstoff für des rheinischen Kletterers liebstes Thema geliefert: 

Lokalzeit aus Aachen

Sonntag, 15. September 2013

Trebenna? It´s the best!

Turkish Standard
 
 
Freudig mag ich berichten, dass in der neusten Ausgabe meiner Leib.- und Magen- Lektüre "KLETTERN" erneut etwas meines Geschreibsels abgedruckt wurde. In diesem Fall habe ich meine nicht nur von Efes und Gözleme handelnden Erlebnisse eines Kletterurlaubs in der Türkei niedergeschrieben. 



Nein, natürlich geht es nicht nur um kulinarisches, sondern auch, oder vorwiegend, wie der Titel des Magazins erahnen lässt, ums Klettern. Um Routen, Sektoren und Grade. 
Um Moves und Cruxes, um Ausdauerhämmer und Boulderlastige Linien. 
Aber nicht zuletzt geht es um die, die all das Betrifft: Die Typen, die sich "Climber" nennen. Die, welche in diesem Fall im josito -camp, zusammengekommen sind um sich an den Felsen von Geyikbayiri zu vergnügen.

Herzlich Danken möchte ich an der Stelle Öztürk und Tobias, für die vielen Infos und noch mehr Fotos und vor allem für eine tolle Zeit in der Türkei.

Alles nachzulesen im Heft:


Klettern September 2013 

Freitag, 13. September 2013

Extreme Wagnisse


...aber nicht nur Reinhold ist bereit viel zu wagen:

 




Auch Jerry Moffat: 

Extrem Minimalistisches in tuntig-pinken Lycras.



Oder natürlich Kurt Albert:

Extremer Sautanz in extrem kurzen Turnhosen. 




Auch er ist dabei, Wolle Güllich:

Extremer Klimmzug in verdammt weißen und viel zu langen Tennissocken.








Aber das stilistisch wohl größte Wagnis geht dieser Alpinist ein:
 Extremes Frieren am Watzmann in völlig uncooler Hippiemütze!

Donnerstag, 5. September 2013

Der schwerste 6. Grad...



...oder ungewollte Neuerschließung

Schweigend sitzen wir in der offenen Hecktüre des Bullys und mummeln unser Frühstücksbrötchen in uns hinein. Es ist kurz nach sechs Uhr morgens. So früh steht man nun wirklich nicht an einem Urlaubstag auf. Doch gestern ist es schon so unerwartet heiß geworden, dass wir in der Wand beinahe verbrannt wären. Schultern und Beine zeigen  deutlich rote Spuren des intensiven Sonnenbades. Also wurde heute der Wecker noch eine Stunde früher gestellt. Vielleicht sind wir ja, wenn es richtig heiß wird, schon oben. 8 Seillängen bis zum glatten 6. Grad sollen uns 250 Meter die Parete San Paolo hinaufführen. Selene heißt dann die ganze Unternehmung. Die Göttin des Mondes. Passt zumindest zur Uhrzeit.

 
So richtig hat keiner Lust zu reden. Die Euphorie ist im Laufe der Tage einer gewissen Routine gewichen. Aufstehen, frühstücken, klettern, absteigen, relaxen. Auch sind wir nach diversen Klettertagen und großer Hitze schon ganz schön fertig. Trotzdem sollte es heute die „Selene“ noch mal sein. Hat es doch vorgestern schon wegen akutem Kräftemangel zum Abbruch nach der ersten Seillänge und einem eingeschobenen Pausentag geführt.
Eine halbe Stunde später finde ich mich am ersten Stand wieder. Auch Heni scheint im Nachstieg gut voranzukommen. Mein Blick wandert über die Bergketten und ich beobachte, wie sich die ersten Sonnenstrahlen über den Monte Stivo kämpfen. „Lass dir ruhig Zeit“, flehe ich die Sonne gedanklich an. Doch am 2. Stand brennt sie schon wieder unerbittlich auf unserer Haut. Dafür läuft die Kletterei gut. Heni erreicht mich und wir werfen gemeinsam einen Blick auf den gestern liebevoll von mir abgezeichneten Routentopo. Ein bisschen nach links queren und dann über einen kleinen Überhang, so stellt sich die Skizze dar. Also klettere ich los. Eine Sanduhrschlinge führt zu einem Ringhaken. Von dort sehe ich weit entfernt links über mir einen Überhang. Da muss es sein. Also quere ich weiter. Inzwischen ca. 5 Meter links vom letzten Ring sehe ich trotz der bislang akzeptablen Absicherung weder einen Haken noch einen offensichtlichen Ort, der eine mobile Sicherung beherbergen würde. Die zu überwindende Platte wird griff- und trittärmer. Doch noch mal einige Meter weiter links entdecke ich ein kleines Plateau und nach einem untersuchenden Blick auch zwei Standhaken. Laut Topo sollte dort zwar gar keiner sein, doch in Anbetracht des sonst entstehenden Seilverlaufs war es auch wiederum gut, dass dort noch ein Zwischenstand eingerichtet worden war. Eine runde, offene und wenig tiefe Einfurchung durch die Platte schluckt glücklicherweise meinen 2er-Camelot. Nicht nur an mich, sondern auch an die nachsteigende Heni denkend empfinde ich das zu absolvierende Manöver vom Ring zum Stand zu gelangen als halsbrecherische Aktion. Leider spuckt die Wand meinen Lieblingscam bei meiner ersten Bewegung wieder aus. Dieses altbekannte Gefühl steigt in mir auf. Jenes, welches immer wieder im Laufe eines Kletterlebens die Frage auf wirft: Was mache ich hier? Warum sitze ich nicht am Gardasee oder in einem Eiscafé?
Beim zweiten Mal wird mein Cam geduldet. Dass er im Sturzfall an Ort und Stelle bleibt, glaube ich in diesem Moment schon, aber nur, weil ich es glauben möchte, und rette mich mit hektischen Bewegungen auf das Plateau. Ich hoffe, dass Heni jetzt ebensoviel Glauben aufbringen wird, und fordere sie zum Nachkommen auf. Auch sie kommt mit kleineren mentalen Verschleißerscheinungen am Stand an. Erneut wird meine Toposkizze begutachtet und diskutiert. Beide sind wir uns einig, dass dieser Stand eine sehr vernünftige Sache ist. Wie wäre doch die Seilreibung gewesen, wäre man direkt weitergeklettert? Und überhaupt bieten sich doch diese Quadratmeter, zudem im Schatten gelegen, für diesen Zweck an.
 
Und von diesem Punkt konnte man nun das erste Highlight der Route angehen. Der erste von „vielen Überhängen, die infolge ihrer Gutgriffigkeit relativ leicht zu übersteigen sind“, so stand es geschrieben. Im 6. Grad befindet sich diese Passage und voller Vorfreude steige ich ihr entgegen. Die 3 Meter überhängender Fels sind von einem Riss durchzogen, welcher offensichtlich auch die darüber liegende Wand teilt. Ich klettere die ersten Meter an. Gute Griffe finde ich nicht. Vielmehr bleibt erst einmal nur, den Riss zu piazzen. „Darüber wird schon eine Kelle kommen“, denke ich, aber sie kommt nicht und während meine Arme dicker werden, klettere ich bis zum letzten No-Hand-Rest vor dem Überhang ab. „Ich bin ja auch schon platt, zudem schmieren die Griffe in der prallen Sonne. Wirst dir doch jetzt nicht den Onsight nehmen lassen. In einer 6er-Seillänge!“ Also noch mal. Die Züge gehen schon etwas besser, aber die Suche nach der relativen Gutgriffigkeit bleibt wieder ergebnislos. Und noch mal, und wieder ab zum No-Hand. Und noch mal und noch mal. „Das muss doch gehen!“ Die Versuche werden schon etwas ungeduldiger und wütender und schließlich stehe ich wieder am Ende des Überhangs in Piaz-Stellung und gebe die Suche nach der Kelle auf. Stattdessen stelle ich, krampfhaft das Öffnen der Tür verhindernd, pumpend und keuchend, „Jetzt aufpassen“ rufend, den linken Fuß auf Reibung, den rechten in den Riss, den linken nochmals hoch und stemme mich weiterhin mit aller Spannung in die Gegendruckposition. Inzwischen liegt die letzte Sicherung weit unter mir und das Einhängen der leicht angegammelten Seilschlinge würde nochmals ein extrem wackeliges Unterfangen werden. Mit Armen dick wie Betonpfeiler und einer ordentlich angeschlagenen Psyche würge ich das Seil in die Expressschlinge und atme auf. Auch auf dem Weg zum Stand vermisse ich die relative Gutgriffigkeit, aber der ernsthaften Gefahr entronnen, lassen sich die übrigen Meter auch noch absolvieren.

„Immer tüchtig in die Schlingen greifen“, lautet mein wohlwollender Rat an Heni, in der Sorge, dass sie als bekennender Nichtfan von Überhängen dort auch ihre liebe Not haben wird. Wie eine halbe Ewigkeit kommt es mir vor, die Heni benötigt, um die Länge begleitet von einigen Unmutsäußerungen zu absolvieren.
Ich nutze die Zeit, die nächste Länge zu mustern. Und um mir die Gefährlichkeit des weiteren Abstands zur ersten Sicherung gründlich einzureden. Zudem tauchen wieder kleinere Ungereimtheiten zwischen Skizze und Realität auf. Ob der Topo schlecht ist oder ich schlecht abgezeichnet habe, mag ich in dem Moment nicht beurteilen, aber es ist wie üblich anzunehmen, dass die Schuld nicht bei mir liegt. Wie dem auch sei –die namensgebende mondsichelförmige Verschneidung geht nicht senkrecht über dem Stand los. Vielmehr gilt es, vorweg ca. 15 Meter Querung zu absolvieren, bis ich eine, wenn auch kurze und nicht gebogenen, Verschneidung ausmachen kann. Als Heni offensichtlich auch etwas von der Kletterei mitgenommen bei mir auftaucht, informiere ich sie kurz über die Ungereimtheiten und klettere dann los. Mit der entsprechenden psychologischen Vorarbeit  im Gepäck klettere ich zittrig die erste Seilschlinge 4 Meter über meinem Kopf an. Die Platte ist von der Sonne schmierig. Eine traumhafte Querung folgt. Es geht unter einer goldgelben, versinterten Wandzone her und nach einigen Metern steige ich in Richtung Verschneidung an. Dort angekommen sind meine Arme wieder ziemlich dick und ich schüttele die restlichen Meter bis zum Stand fast an jedem Griff sekundenlang meine Arme aus.


Heni kommt nach. Die „Mach mal zu“-Frequenz steigt deutlich an. Da ich nun in der prallen Sonne stehe, meine Füße in den Kletterschuhen auf das doppelte angeschwollen sind und nun der Platz im Inneren nicht mehr auszureichen scheint, weil meine gestern noch leicht geröteten Schienenbeine  sich im Zeitraffer von Lachs- zu Krebsrot verfärben und weil ich überhaupt einen großen Drang verspüre, bald anzukommen, bete ich mantraartig: „Komm schon, mach schon, das bekommst du schon hin!“, vor mich hin.

„Ich komme hier nicht weiter. Hier geht gar nichts mehr!“, reißt mich jäh aus meinem Gebet. Heni hängt in der Verschneidung. Immer und immer wieder probiert sie, die Stelle zu lösen, doch es lässt sich kein Millimeter mehr Seil einholen. „Geif ins Pärchen! Häng dir ’ne Schlinge als Tritt ein! Lass ruhig alles hängen!“, sind meine Empfehlungen. Doch immer wieder kommt: „Geht auch nicht!“ als Antwort. 4 SL trennen uns nur noch vom Gipfel und einem bequemen Spaziergang ins Tal. Zugegebenermaßen keine sonderlich leichten, wenn man dem Topo glauben darf, aber alles absehbar. Mit Grausen denke ich jedoch an eine mögliche Abseilfahrt und die damit verbundenen Ungewissheiten und Strapazen. Eine SL mit langer Querung, die Plattenstelle, die den Camelot nicht aufnehmen wollte, zurückklettern und überall Bäume und Büsche in der Wand, die mit Vorliebe abgezogene Seile auffangen und nicht wieder freigeben. „Komm schon, mobilisiere noch mal alles! Das geht schon und hier oben reden wir weiter!“, rufe ich noch mal verzweifelt runter. Als Konsequenz wird auch tatsächlich das Seil locker und Heni bewegt sich weiter aufwärts. Stück für Stück kämpft sie sich zum Stand. „Eine Seillängen im 5. Grad und wir haben etwas Schatten unter dem großen Dach. Dort pausieren wir etwas und überlegen dann, ob wir weiterklettern oder abseilen.“ Heni stimmt zu. Natürlich steht die Sonne so , dass es unter dem großen Dach keinen Quadratmillimeter Schatten gibt, und natürlich fällt es Heni nicht wesentlich leichter , diese Seillänge zu absolvieren. Nach den letzten verzweifelten Überredungsversuchen meinerseits („Nur noch 3 Längen!!!“) beginnt die Abseilfahrt durch den Glutofen der Parete San Paolo. Die zuletzt gekletterte Länge ist noch unproblematisch. Doch dann gilt: Alles, was man hingequert ist, muss man auch wieder zurückqueren. An der Prusik halb baumelnd halb kletternd erreiche ich einen Ringhaken und hänge eine Expressschlinge ein. Auf Höhe des Standes versuche ich das gleiche Manöver nochmals, mit dem Unterschied, dass der Weg durch einen dichten Busch versperrt ist. An diesem angekommen, hängt das Seil schon im 45 Gradwinkel und ich habe das Gefühl, jemand umklammert mich fest an der Hüfte. In unelegantester und auf nichts mehr rücksichtnehmender Art durchquere ich den Busch und hänge schnell meine Bandschlinge ein bevor es mich quer durch den Busch zurückzieht. So schon bin ich von oben bis unten zerkratzt. Heni ergeht es nicht viel besser. Sie muss ja noch die Schlingen aushängen. Beide ziehen und zerren wir, ich am unteren Ende des Seils, um sie durch den Busch in Richtung Stand zu manövrieren, sie an Fels und Busch und was sie sonst noch zu greifen bekommt. So langsam beginnen wir, uns mit unschönen Titeln anzureden und genügend Gründe zu finden, warum der andere Schuld an der Misere ist. Das Schlimmste an der gesamten Situation ist die Tatsache, dass die Sarca in Seh- und Hörweite gemütlich gen Gardasee fließt und die Sehnsucht nach ein wenig Erfrischung kaum noch auszuhalten ist. Aber weiter geht die Abseilfahrt bis zum schon öfters erwähnten Plateau. Dort, endlich mal im Schatten, beruhigen wir erst einmal die Gemüter und überlegen. „Wenn wir die SL nicht zurück klettern wollen, müssen wir ins Ungewisse gerade runter seilen. Leicht schräg versetzt müsste der vorherige Stand sein …“ Sehr unsicher bin ich mir in dieser Vermutung, habe aber auf der anderen Seite wenig Lust, die Querung, die meine Cams so gar nicht mag, zurück zu klettern. „Bestimmt! Mach das! Da kommt bestimmt ein Stand!“ Ich glaube bis heute nicht, dass diese Ermutigung auf der Abwägung von Fakten und dem daraus resultierenden Schluss basierte. Vielmehr scheint der Unwille zu queren bei Heni um ein Vielfaches ausgeprägter zu sein. Also seile ich ins Ungewisse hinab. „Hier sind Sanduhrschlingen einer anderen Tour!“, rufe ich Heni zu, „dann finden wir hier auch einen Stand!“ Tue ich auch wenige Meter darunter. Der erscheint mir ziemlich unbequem und so seile ich weiter ab in der Hoffnung, auf dem darunterliegenden Band den  ersten Stand unserer Route zu finden. Dies hieße dann nur noch eine Abseilfahrt. Und dem ist dann auch so.

Wenigstens das Bier ist kalt!

Wie geschlagene Ritter kommen wir in brütender Hitze auf dem Parkplatz direkt an der Sarca an. Mit uns eine weitere Seilschaft, die ebenfalls schlecht gelaunt und schimpfend von ihrer ebenso ätzenden Abseilfahrt in der Via Helena berichtet. Die gruppentherapeutische Möglichkeit des Erfahrungsaustauschs und der anschließende Sprung in die Sarca lassen die Enttäuschung etwas abklingen. Aber mir kommt da auch ein Gedanke. Wieder am Bully zurück zücke ich den Topo, welcher als Vorlage für meine Skizze diente, und beim ersten Blick kommt mir das Gespräch während des gestrigen Zeichnens wieder in den Sinn.
„Hier ist die Nachbartour eingezeichnet, die dort entlangläuft, willst du das nicht mit einzeichnen?“ „Ach Quatsch. Da müsste man schon sehr doof sein, um sich in die Nachbartour zu verirren.“ Offensichtlich waren wir sehr doof! Resultat des nicht mit skizzierten Routenverlaufs der Nachbartour war: eine „neue Seillänge“ mit einer ca. 10-Meter-Querung auf einer ungesicherten und kaum absicherbaren Platte und Onsight-Begehung der beiden Schlüsselseillängen der Elios im Grad 7+ und 7. Und hätten wir zu guter Letzt noch gewusst, dass die verbleibenden 3 Längen leichter gewesen wären als die, die auf unserer Skizze standen, wären wir vielleicht noch bis zum Gipfel geklettert und hätten eine brandneue Kombination „erschlossen“. So oder so beginnen wir laut zu lachen und freuen uns, mal wieder den „Rückzug im Ernstfall“ geprobt zu haben, auch wenn der letzte Klettertag ohne Durchstieg blieb.